Der ‚Tabubruch‘ von Erfurt bringt ein paar demokratische Lebenslügen der Republik ins Wackeln
Vorab aus GegenStandpunkt 1-2020
Das Jahr 2020 hat gerade seinen ersten Monat hinter sich, da produzieren die politischen Parteien, die nicht nur Deutschland im Allgemeinen, sondern sein thüringisches Herzland im Besonderen regieren wollen, ein paar schöne Highlights der demokratischen Kultur der Nation.
Das Erste, was die drei rechten Parteien im Landtag von Thüringen mit der Wahl des Herrn Kemmerich zum Ministerpräsidenten vorführen, ist eine gerne missverstandene Banalität. Sie lautet: Das Mehrheitsprinzip, das Herzstück demokratischer Herrschaft, ist die zivile Technik des Machterwerbs; das Ergebnis demokratischer Wahlentscheidungen ist Ermächtigung – Punkt. Politische Argumente, Gesichtspunkte, Beweggründe sind darin aufgehoben, ebenso alle Kungeleien, Intrigen und Winkelzüge, die zu einer Mehrheit geführt haben. Politische Vorhaben, auch parteipolitische Zielsetzungen werden mit dem Wahlergebnis zum Gegenstand des freien Ermessens, des Machtkalküls des Gewählten. Das repräsentiert der in Erfurt gewählte FDP-Mann in den wenigen Stunden seiner Amtszeit exemplarisch, wenn er Art und Gründe des Zustandekommens seiner Mehrheit im Landtag für irrelevant erklärt, was sie nach demokratischem Recht und Gesetz ja auch sind, und wenn er der Mehrheit seiner Wähler eine entschiedene Absage an ihre politische Ausrichtung, eine „Brandmauer“ gegen rechten Extremismus ankündigt. Wählen bedeutet Ermächtigung; alle Vorstellungen der Art, ein Mehrheitsvotum für einen Regierungschef wäre etwas anderes, die Beteiligung an einer verbindlichen Beschlussfassung über ein ausdiskutiertes Programm herrschaftlicher Volksbeglückung womöglich, liegen daneben, entspringen allein dem Bedürfnis des gesunden Menschenverstandes, dem Willen zur Macht im Staat einen irgendwie plausiblen guten Zweck als seinen eigentlichen Inhalt zu unterstellen. Die Sachen, die mit öffentlicher Gewalt zu erledigen sind, stehen mit der Stellenbeschreibung des Amtes, das seinem Inhaber herrschaftliche Macht verleiht, fest – es handelt sich allemal um Teile der Agenda hoheitlicher Kontrolle und Lenkung des kapitalistischen Gemeinwesens –; im Kleinen auch da beispielhaft der neue Landesvater von Thüringen, der zwar nur für Stunden, aber ohne Zögern den Terminkalender seines abgewählten Vorgängers übernimmt. Für die Parteien und ihre Vertreter kommt es darauf an, per Mehrheitsentscheid in die zu vergebende Machtposition hineinzukommen. Ihre berühmten „politischen Inhalte“ sind dafür funktional; was daraus wird, hängt nicht von ihrem Inhalt, sondern vom Abstimmungserfolg ab; im Erfolgsfall sind sie Optionen des freien Machtgebrauchs des Gewählten. Für die, die im Staat Herrschaft ausüben wollen, ist der erste und alles entscheidende Inhalt der Macht jedenfalls, dass sie sie haben.
Diese schlichte Wahrheit der Demokratie haben die Thüringer Abgeordneten mit ihrem „überraschenden“ Votum für den FDP-Mann als Ministerpräsidenten also praktiziert. Auf den Grundsatz, dass Herrschaftsmacht in der Demokratie durch das Verfahren ihrer Zuteilung begründet und legitimiert wird und der Gewinner sich nicht auf andere Gründe und Rechtfertigungen befragen lassen muss, berufen sich folgerichtig, mehr oder weniger explizit, die Christ- und Freidemokraten, das bekräftigen sie, wenn sie gleich in den ersten Stunden nach dem Ereignis ihr Einverständnis mit dem Ergebnis kundtun und an ihrem Votum schon deswegen nichts fragwürdig finden können, weil es vorschriftsmäßig mit der nötigen Mehrheit zustande gekommen ist. Dasselbe bringt der ‚elder Statesman‘ der AfD, Gauland, auf den Punkt, wenn er die Kritik an der erfolgreichen Wahl und das Ansinnen, sie rückgängig zu machen, in höflicher Zurückhaltung demokratietheoretisch unverständlich findet. Und eine kleine Zusatzlektion über die Macht in der Demokratie und ihr gewähltes Personal erteilen die „selbstbewussten Abgeordneten“ der Thüringer CDU, wenn sie unter Berufung auf ihr freies, ungebundenes Abgeordneten-Gewissen die politische Infragestellung, erst recht die Revision ihres Votums strikt ablehnen: Entscheidung ist Entscheidung; ihre Gründe unterliegen dem Schweigerecht des Volksvertreters. Die glücklich erworbene Macht emanzipiert ihren Inhaber vom Willen seiner Basis.
Mit dem heiligen demokratischen Grundsatz Das Verfahren begründet und rechtfertigt jedes Ergebnis! ist es dann aber doch nicht getan. Die Ermächtigung des FDP-Manns ist zwar nach allen Regeln der Demokratie passiert. Irgendwie muss sie aber doch von den politisch Richtigen ausgehen. Das steht zwar so nicht im Lehrbuch der Demokratie und auch nicht in der Verfassung der BRD oder des Landes Thüringen, gehört aber ganz wesentlich zum Selbstverständnis der Parteien, die sich als die politische Mitte verstehen und rechte wie linke Abweichungen von der bundesdeutschen Staatsräson, so wie sie sie verstehen und praktizieren, als extremistische Ränder definieren, die auf jeden Fall von der politischen Macht ferngehalten werden müssen. Mit dieser Ausgrenzung sind sie mit dem Mehrheitsprinzip des demokratischen Machterwerbs deswegen so gut wie nie in Konflikt geraten, weil sie zusammen noch allemal die überwältigende Mehrheit in den Parlamenten gestellt haben. Im Rahmen ihres grundsätzlichen Konsenses, dass rechts von der Union und links von der SPD kein Platz für wählbare Alternativen bleiben darf, sind die Mehrheitsparteien zwar oft und heftig genug aneinandergeraten und haben sie mit dem Recht der „bloß zahlenmäßigen“ Mehrheit auf die Macht gehadert. Herausgebildet hat sich darüber aber die Überzeugung, das Verfahren demokratischer Ermächtigung wäre per se und seinem tieferen Sinn nach eine selbsttätige Garantie für den Ausschluss aller politischen Positionen von der Macht im Staat, die die „gemäßigten“ Parteien als extremistisch ächten.
Mit dieser schönen Selbstverständlichkeit ist es mit der Karriere der AfD im Prinzip, mit der Wahl in Thüringen ohne Mehrheit für „die Mitte“ auch praktisch vorbei. Gebilligt ist die neue Sachlage deswegen aber noch lange nicht. Die CDU jedenfalls hält gegen die AfD nur umso entschiedener an ihrem Besitzanspruch auf die politische Mehrheit fest, die ihr durch die Abwanderung von Wählern nach rechts außen verloren geht. Die Berliner Zentrale verbittet sich, auch und speziell in Thüringen, jede Konzession nach rechts sowie zur Linkspartei und setzt sich bemerkenswert bedenkenlos darüber hinweg, dass sie damit jede Regierungsbildung in Erfurt unmöglich macht; nach dem Motto: Lieber gar keine Regierung als eine mit den Falschen. Und weil eine 1-Stimmen-Mehrheit es doch anders entschieden hat, fordern die christlich-liberalen Anwälte des demokratischen Procedere, heftig unterstützt von der düpierten Linkskoalition, das Mehrheitsvotum des Erfurter Parlaments formvollendet zu annullieren – unter Berufung auf nichts als ihren Entschluss zur politischen Ächtung der Partei, die diese Mehrheit organisiert und eben dafür die Fraktionen von CDU und FDP gewonnen hat.
Die haben die Lage nämlich anders gesehen als die Chefs in Berlin und halten daran auch gegen alle Kritik ziemlich stur fest. Erstens freuen sie sich an dem Erfolg, ihr hauptsächliches Wahlversprechen, die Ramelow-Regierung zu kippen, wahr gemacht zu haben; übrigens gemäß dem Verdikt, das die CDU insgesamt über jedes Entgegenkommen gegenüber der Linkspartei verhängt hat, und unter Beifall aus verschiedenen Regionen, auch als „gemäßigt“ geltenden Abteilungen und vor allem aus der reaktionären Jugendorganisation der Partei. Zweitens finden sie, dass ein Votum, das – auftragsgemäß – „links“ verhindert, nicht ausgerechnet deswegen falsch sein kann, weil die Rechten, ohne weitere Ansprüche zu stellen, dabei mitmachen. Denn drittens finden sie auch an dem positiven Inhalt, den ihre negative Verhinderungskoalition mit der AfD faktisch besitzt und an dem der AfD bei ihrem schlauen Manöver ganz eindeutig gelegen ist, nicht wirklich etwas auszusetzen: Zwar nur punktuell, aber durchaus exemplarisch hat sich da die bürgerliche Mehrheit zusammengefunden, für deren Herstellung die AfD sich keineswegs nur in Thüringen ihren christ- und freidemokratischen Kollegen schon länger andient und die so mancher Christdemokrat schon längst einer großen Koalition mit Linken oder Ökos vorziehen würde. Natürlich sind Höcke & Co für die Parteien der „Mitte“ politische Gegner, weil „eigene“ Wähler zu denen überlaufen. Aber was für diese Wähler gilt, nämlich dass sie sich für diesen Übergang offenbar nicht groß umstellen müssen, das gilt für die Mehrheit der Thüringer Deputierten dieser Parteien in der Form, dass sie das ehrende Attribut „bürgerlich“ ganz ähnlich definieren wie ihre rechten Nachbarn: Die Herrschaft im Land gehört in die Hände einer Koalition, die durch ihren gemeinsamen Herrschaftswillen konstituiert ist und zusammengehalten wird und für die die Linkspartei noch 30 Jahre danach die alternative antikapitalistische Staatsräson des DDR-Sozialismus repräsentiert oder wenigstens symbolisiert. Dass sie die „Brandmauer“ nach rechts außen de facto einreißen, um sie nach links aufrechtzuerhalten, geht für sie auf jeden Fall in Ordnung.
Anders die noch amtierende Parteispitze und die Kanzlerin. Die halten unverändert fest an der Ächtung der AfD. Analog zur Verurteilung der Linkspartei als letztes Überbleibsel der „DDR-Diktatur“ gilt gegen die Rechtspartei der Verdacht, in ihr habe man es mit der Wiederkehr der zutiefst unbürgerlichen „völkischen“ Staatsräson des Nationalsozialismus zu tun; der bürgerliche Wille zur Macht im Staat, wie er ist, sei nur vorgetäuscht. Festgemacht wird dieses Urteil eher nicht an einer Analyse des Parteiprogramms, die wesentliche Unvereinbarkeiten mit der politischen Leitkultur der C-Parteien zutage gefördert hätte; stattdessen an der Tatsache, dass der bundesdeutsche Verfassungsschutz zwar nicht die AfD, aber Teile von ihr zu „beobachten“ beschlossen hat; auch an einem Gerichtsurteil, das die Bezeichnung des Thüringer AfD-Vorsitzenden als Faschist erlaubt; und in der Sache vor allem an einem Politikstil, der die politische Stimmung im Land und das Verhältnis des Volkes zu seinem angestammten Establishment „vergiftet“. So richtig skandalisiert und als – nach der von der Kanzlerin aus Südafrika vorgegebenen Sprachregelung – „unverzeihlicher“ Tabu-Bruch ganz hoch gehängt wird die Erfurter Kumpanei der „Partei der Mitte“ mit den Rechtsradikalen aber aus einem höheren Grund: wegen des innen- wie vor allem außenpolitischen Stellenwerts der politischen Moral der bundesdeutschen Republik, gegen die die AfD mit ihrem offensiven Geschichts-Revisionismus, der Verharmlosung des Holocaust zum „Vogelschiss“ in der glorreichen Jahrtausend-Geschichte deutscher Nation eklatant verstößt. Diese Verfehlung begründet eine Absage, jedenfalls seitens des Berliner Spitzen-Establishments, die über das parteitaktische Kalkül mit einer gefährlich erfolgreichen Konkurrenz deutlich hinausgeht und sich auch vom Umgang der „Mitte“-Parteien im Rest der europäischen Welt – die Koalitionen der Österreichischen Volkspartei mit der AfD-Schwester FPÖ wären da als Erstes zu nennen – deutlich unterscheidet. Es geht um das Ethos der sittlichen „Bewältigung“ der nationalsozialistischen „Vergangenheit“, das Gütesiegel der fundamentalen Läuterung, mit dem die Republik ihre Rehabilitation als Kapitalismus mit bürgerlich-demokratischem Antlitz und ihren Aufstieg zur über jeden hässlichen Imperialismus-Verdacht erhabenen Führungsmacht veredelt und weltweit verkauft hat. Diese antifaschistische Lebenslüge gibt auch das „wiedervereinigte“ Gesamtdeutschland, auch und erst recht im Zeitalter des Euro, nicht auf. Dazu ist sie viel zu wertvoll im diplomatischen Geschäft, als breit inszenierte Botschaft an die vom deutschen Kapitalismus be- und ausgenutzte, von Berliner Experten der „good governance“ bevormundete Staatenwelt, dass die von dem Monster in der Mitte Europas bestimmt nichts und „nie wieder!“ etwa Schlimmes zu befürchten hätte. Und als Disziplinierungsmittel der Parteien der „Mitte“ im Umgang mit den eigenen Rechtsabweichlern hat sich die – von ehrbaren westdeutschen Intellektuellen oft genug angefeindete – „Auschwitz-Keule“ auch immer wieder einigermaßen bewährt.
Eben das Letztere scheitert inzwischen aber nicht bloß an der AfD. Den weltpolitischen Zweck des Standpunkts nationaler Scham versteht die Nation seit jeher nicht gut. Mit der moralischen Dialektik eingestandener nationaler Schuld ist der bundesdeutsche Patriot, der seine Identität als würdevolle Person irgendwie in der historischen Großartigkeit deutscher Macht findet, auch schon immer überfordert; die Beschwörung des gewaltigen Unterschieds zwischen der so zivilen neuen NATO-Republik und dem schmachvoll untergegangenen „3. Reich“ mit seinen unverzeihlichen Greueltaten ist nur nach ihrer positiven Seite, als Lob der BRD populär geworden, nie oder nur ganz ausnahmsweise als Absage an das Kontinuum ‚Nation‘. Mittlerweile verflüchtigt sich dieser eigentümliche bundesdeutsche Antifaschismus – natürlich immer noch nicht zur Zufriedenheit der geschichtsrevisionistischen Rechten – in die Sphäre der Gedenkstunden und -stätten. Und den Wählerschichten, die die „Mitte“-Parteien der BRD sich im Osten erschlossen haben, ist diese Geschichtsmoral ohnehin fremd: Dort ist Hitlers Volk ein ganz anderer Antifaschismus aufgenötigt worden, für den es im Neuen Deutschland definitiv keinerlei Verwendung mehr gibt. Im Gegenteil: Unter den Sicherheitsorganen der untergegangenen antifaschistisch-„realsozialistischen“ Parteiherrschaft ganz entsetzlich gelitten zu haben, diese Lebenslüge gehört noch nach 30 Jahren zum politmoralischen Rüstzeug derer – des „Wir sind das“-Volkes wie seiner selbstbewussten Vertreter –, die sich mit der Angliederung ihrer ungeliebten Heimat an die BRD das abgrundtiefe Recht auf ungeschmälerten und ungehemmten gesamtdeutschen Nationalismus und auf einen nachholenden Antikommunismus erworben haben, der die Ablehnung jeder Art von Antifaschismus einschließt. Dieses Ethos wird lebendig, wenn Erfurter Christ- und Freidemokraten mit dem Standpunkt „Man wird mit den Freunden von rechts doch wohl noch gegen die Stasi gemeinsame Sache machen dürfen!“ gegen die Zentrale in der alten „Hauptstadt der DDR“ auftrumpfen.
Dass die Thüringer C-Fraktion mit ihrer Intransigenz die Chefin der Gesamtpartei in eine Verlegenheit bringt, aus der die sich schon nach ein paar Tagen nur noch durch die Ankündigung ihres Rücktritts zu befreien vermag, das liegt wiederum gar nicht an irgendwelchen mitteldeutschen Besonderheiten. Dass „Flügelkämpfe“ und politische Gegensätze ihre Verlaufsform im Machtkampf um Posten finden, der, siehe oben, durch das schlagende Argument des Mehrheitsentscheids zu entscheiden ist, das gehört zum Wesenskern innerparteilicher Demokratie. Dass die punktuelle Kumpanei mit der AfD die gesamte CDU nachhaltig erschüttert, hat seinen Grund in der Unzufriedenheit wachsender Teile der Partei mit einer Merkel-Politik, die es für den geschärften patriotischen Geschmack an rigider nationaler Leitkultur entschieden fehlen lässt; einer Unzufriedenheit, die sich durch den Verlust „eigener“ Wähler an die AfD voll bestätigt findet. Dass schließlich der fällige christdemokratische Machtkampf so flott Fahrt aufnimmt, dass AKK nur der mit ein paar Hinhalte-Klauseln versehene Abschied bleibt, liegt an einem CDU-Establishment, das die Macht in Partei und Land schon seit längerem neu verteilen will und hierfür die Verweigerung von Gefolgschaft als das probate Mittel zur Destruktion der Führung zur Anwendung bringt.
Von der christdemokratischen Konkurrenz der Karrieristen, die damit in Schwung gekommen ist, trägt das Ethos des grundsätzlich zum Besseren gewendeten deutschen Nationalismus absehbarerweise einige Kollateralschäden davon. Auch das ist am Ende wieder demokratisch ganz normal.