100 Jahre Erster Weltkrieg
Zukunftsweisende Erinnerungen an „sinnlose“ Völkerschlachten – „Aus der Geschichte lernen!“: Lehren der Geschichtswissenschaft für die deutsche Politik
Der 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs wird als das „bisher größte mediale Geschichtsereignis des 21. Jahrhunderts“ (Spiegel 1/14) veranstaltet. Anlässlich des dichten „Erinnerungsparcours“ der Staatsfeierlichkeiten kommt das Volk in den Genuss höchstoffizieller Ansagen, welche Lehren aus der Vergangenheit für ‚uns‘ heute zu ziehen sind. Die Nation, vertreten durch ihre obersten politischen Repräsentanten und unter Mitwirkung namhafter Historiker und Publizisten, stellt damit ihre aktuelle Verfassung sowie ihre Mitgliedschaft und Führungsposition in der EU als geschichtlich wohl begründete Konsequenz aus der monumentalen ‚Sinnlosigkeit‘ jenes Krieges und damit in einigermaßen verwandelter Form zur Schau. Die Rückbindung der gegenwärtigen Staatsräson an die nun hundert Jahre alte Vergangenheit verleiht ihr das Ansehen eines respektablen Meilensteins eines langen und schwierigen Wegs hin zu einer europäischen Wertegemeinschaft für Frieden und Freiheit; ein Weg, zu dem eben auch die Überwindung nationaler ‚Irrwege‘ mit katastrophalem Ausgang gehört. Das bringt Sinn in die nationale Vergangenheit und Gegenwart, und der soll Letztere ein Stückchen unwidersprechlicher machen. Mit anderen Worten: Mit den alten Geschehnissen wird Politik gemacht – politische Propaganda. ‚Kollektive Identitätsstiftung‘ zur Förderung einer ‚kontinentalen Erinnerungsgemeinschaft‘ und – ‚aus der Geschichte lernen!‘ heißt das dann.
Die Lehren aus der Geschichte besagen u. a., dass zum Erhalt des Friedens, des europäischen wie des weltweiten, auch Krieg gehört, und die mächtigste Macht in Europa sich da nicht länger ‚zurückhalten‘ kann. Das hat der Bundespräsident in letzter Zeit schon wiederholt ganz ohne geschichtliche Rückendeckung verlautbart. Anlässlich der Erinnerungszeremonien lässt er es sich aber nicht nehmen, das ordnungsstiftende Auftreten Europas auch noch als aus dem Krieg resultierende „gemeinsame Verantwortung für die Welt“ zu überhöhen. Und er listet die modernen Kriegstitel auf: „Wir können nicht gleichgültig bleiben, wenn Menschenrechte missachtet werden, wenn Gewalt angedroht oder ausgeübt wird. Wir müssen aktiv eintreten für Freiheit und Recht, für Aufklärung und Toleranz, für Gerechtigkeit und Humanität.“ (Gauck, 4.8.2014) Die Lehre aus einem ‚sinnlosen‘ Krieg ist eben nicht kein Krieg, sondern ein sinnvoller.
Die politische Gedenkkultur – eine Herausforderung für die Historikerzunft
Wo Politiker mit ihren Festreden zu großen Jubiläen ihrer Politik den schönen Schein eines historisch erfahrungsgesättigten verantwortlichen Gebrauchs der Staatsmacht verleihen, wo sie mit Verweis auf geschichtliche Lehren, die sie heute beherzigen, ihre Machtkonkurrenz als Erfüllung einer höheren, alle politischen Interessen und Berechnungen adelnden Verpflichtung gegenüber der eigenen und anderen Nationen vorstellig machen und mit dieser wertmäßigen Überhöhung ihres aktuellen Treibens ein unwidersprechliches Anrecht auf ihren Machtgebrauch reklamieren – da sind Historiker in ihrem Element. Sie gehen bei ihrer Befassung mit den vergangenen Staatsaffären der eigenen und anderer Nationen von der ehernen Prämisse aus, dass die einschlägigen Deutungen, das „nationale Geschichtsbild“, handlungsleitende – überhaupt die letztlich wirklich entscheidenden – Maximen politischen Handelns sind, denen aber von den historisch ‚blinden‘, im ‚Tagesgeschäft‘ befangenen Politikern nur allzu selten bewusst gefolgt wird. Mit entsprechendem Ernst und parteilichem Eifer sehen sie sich beauftragt, für ein richtiges, ‚tieferes‘ historisches Verständnis und Bewusstsein bei den zuständigen Akteuren und ihrem nationalen Fußvolk zu sorgen. In diesem Sinn begründet ein Vertreter des Historikergewerbes öffentlich die nationale Wichtigkeit der wissenschaftlichen Befassung mit dem Ersten Weltkrieg:
„Es lässt sich heute kaum eine verantwortliche Politik in Europa betreiben, wenn man die Vorstellung hat: Wir sind an allem schuld gewesen. (…) Wir neigen außenpolitisch zu dem Gedanken: Weil wir historisch schuldig sind, müssen, ja dürfen wir außenpolitisch nirgendwo mitmachen; also kaufen wir uns lieber frei, wenn es darum geht, Europa an den Krisenrändern zu stabilisieren.“ (Herfried Münkler, Prof. für Politische Theorie und Ideengeschichte, Humboldt-Uni, SZ, 4.1.)
Der Mann der Wissenschaft ist überzeugt, dass der richtige Blick auf die Vergangenheit die Staatsmacher überhaupt erst zu verantwortlichem Handeln befähigt. Er sieht dabei zielstrebig ab von allen nationalen Geschäfts- und Machtinteressen, die heutige deutsche Politik in Europa und darüber hinaus bestimmen und im Bewusstsein der Aktivisten einer deutschen Führungsmacht ihre Verantwortung ausmachen. Die aktuellen Ambitionen und Machtinteressen deutscher Europa- und Weltpolitik sind in seinen Augen nur die vordergründige, oberflächliche Erscheinung dahinterliegender, tieferer Bestimmungsgründe politischen Handelns, bloßer Ausfluss eines richtigen oder falschen Bildes von den historisch verbürgten höheren Aufgaben ‚verantwortlicher‘ Politik. Deren Verantwortung definiert sich daher nicht entlang des demokratisch gängigen Wertehorizonts einer Politik aus dem Geist der Verpflichtung gegenüber den Bürgern, sondern aus einer weit darüber angesiedelten Verpflichtung gegenüber ‚der Geschichte‘. Die verpasst die aktuelle Politik, wenn sie sich nicht von der richtigen, ‚über alle Tageskonflikte‘ hinwegreichenden geschichtsmächtigen Idee eines welthistorischen Auftrags leiten und beflügeln lässt. Worin dieser Auftrag – ganz aktuell – besteht, sagt der kritische Wissenschaftler gleich mit dazu: Zumindest in Europa, und am Ende natürlich auch darüber hinaus, entschieden und selbstbewusst als ‚ordnende‘ und ‚stabilisierende‘ Macht tätig werden!
Von dieser hohen Warte aus gesehen liegt für ihn in diesem Land Entscheidendes im Argen. Seinem historisch geschulten Blick stellt sich das nicht gerade zurückhaltende Agieren Deutschlands als europäische Führungsmacht in seiner näheren und weiteren Staatenumgebung als ein kleinmütiger Verzicht auf weltpolitische ‚Gestaltung‘ dar. Und den Grund findet er in einem falschen historischen Selbstverständnis, einer moralisch belegten Sicht der nationalen Vergangenheit, die deutsche Politik lähmt. Das ist verrückt genug angesichts der praktischen Politik genauso wie im Hinblick auf deren offensive Rechtfertigungen durch Merkel & Co. Wo deutsche Politiker mit Verweis auf die unheilvolle historische Erfahrung für ausgreifende nationale und auch vermehrte militärische Zuständigkeit agitieren, sieht der besorgte Historiker aufgrund eines moralisch falsch gepolten nationalen Kollektivgedächtnisses lauter Zaudern und Zurückschrecken vor den Verpflichtungen, die der Macht, also auch und insbesondere deutscher, historisch gesehen, zukommen.
Davon – so sein Selbstverständnis – muss er als Historiker die Politik befreien, indem er der Politik ihre Verantwortung vor der Geschichte bewusst macht und der Nation ein richtiges Geschichtsbild liefert: eines, das den Akteuren das lähmende Schuldgefühl, das sie sich angeblich aus zwei Weltkriegen zugelegt haben, nimmt, sie von politischen Skrupeln befreit und zu tatkräftigem Eingreifen als eine mindestens in Europa und natürlich auch darüber hinaus von der Geschichte beauftragte Führungsmacht beflügelt. Dass es sich Historiker mit diesem Auftrag nicht einfach machen, sind sie sich schuldig.
Was sie, so motiviert, an Einblick in die Geschichte des Ersten Weltkriegs eröffnen, ist Thema von Vortrag und Diskussion mit dem Mitglied der GegenStandpunkt-Redaktion Dr. Theo Wentzke.